Ein Märchen so alt wie die Zeit

In einer Umfrage der US-amerikanischen Society for Human Resource Management gab die Hälfte der Befragten zu, dass sie irgendwann einmal für einen Arbeitskollegen geschwärmt haben. Und drei Viertel der Befragten gaben an, dass es für sie in Ordnung ist, wenn Kollegen miteinander ausgehen. Romanzen am Arbeitsplatz gibt es schon seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar seit Jahrhunderten. Bereits in den 1800er Jahren gab es Diskussionen darüber, dass sich Menschen am Arbeitsplatz zueinander hingezogen fühlten. Nach Ansicht der damaligen Kritiker handelte es sich dabei um Frauen und Männer in Büros, die „Verhaltensweisen an den Tag legten, die keinen Namen haben“.

Aber viele Liebende treffen sich am Arbeitsplatz, und das muss nicht unbedingt in einem Skandal enden. Wenn man bedenkt, dass Menschen zwischen 20 und 50 fast viermal so viel Zeit mit Kollegen verbringen wie mit Freunden, ist das nicht verwunderlich.

Die häufigsten Methoden, um einen Partner kennenzulernen, schwanken – mehr Menschen treffen sich heute online, und weniger Menschen lernen sich über Freunde der Familie kennen. Aber diejenigen, die ihre Liebe am Arbeitsplatz finden, sind statistisch gesehen konstant – sogar während der Pandemie. Dies ist eine Zeit, in der es sich weniger riskant anfühlt, sich mit Kollegen zu treffen, da die anderen Kollegen und der Chef nicht so genau hinschauen können.

Viele Menschen tun sich mit Dating-Apps schwer, da der „Date-Modus“ aufgesetzt und unauthentisch wirken kann. Es kann einfacher sein, jemanden mit ähnlichen Lebenszielen und Interessen bei der Arbeit zu treffen als beim Swipen in einer Dating-App. Wenn man jemanden bei der Arbeit sieht, kann man sich ein besseres Bild von der Person machen. Wenn Menschen in einem gemeinsamen Arbeitsumfeld miteinander interagieren, kann man die grundlegenden Mechanismen der menschlichen Anziehung beobachten. Unabhängig davon, ob es sich um eine physische oder virtuelle Umgebung handelt.

Je öfter eine Person etwas oder jemanden sieht, desto mehr ist sie geneigt, es zu mögen. Dieser Effekt der Bevorzugung von Vertrautheit ist eine psychologische Voreingenommenheit, die als „mere-exposure effect“ bezeichnet wird. Allein die Tatsache, dass man jemanden regelmäßig sieht, kann zu Anziehungskraft führen. Diese Tendenz ist jedoch nicht auf körperliche Nähe beschränkt. Auch emotionale und intellektuelle Nähe kann zu Anziehungskraft führen. Beständiger Kontakt und Interaktion führen zu Vorlieben, unabhängig von der räumlichen Position.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Vorliebe der Menschen für Menschen, die ihnen ähnlich sind. Dies kann sich auch auf die Arbeit auswirken, da sich Kollegen für ähnliche Berufe und dasselbe Unternehmen entscheiden. Wenn zwei Menschen die gleiche Ausbildung genossen haben oder über die Welt auf die gleiche Weise denken, kann diese Ähnlichkeit Sympathie und Verständnis fördern. Diese Chemie kann sich noch verstärken, wenn Menschen gemeinsam ein Problem angehen. Stressige Situationen können soziale Bindungen aufbauen. Wenn man etwas Schwieriges gemeinsam durchsteht, entsteht ein „Wir-Gefühl“. Bei der Arbeit gibt es viele Stressfaktoren, die dieses Gefühl fördern können.

Daher sind Büroromanzen praktisch unvermeidlich. Sie können jedoch zu Interessenkonflikten führen und den Rest des Teams in Unruhe versetzen, was sich auf die Leistung auswirken kann.
Unternehmen tun am besten daran, sie zu managen, anstatt so zu tun, als gäbe es sie nicht. Wichtig ist, dass zumindest die Personalabteilung und der direkte Vorgesetzte eines Mitarbeiters darüber informiert werden. Viele Menschen halten es für weniger problematisch, sich mit jemandem aus dem gleichen Machtbereich zu verabreden als mit einem Chef oder einem Untergebenen. In jedem Fall wird der Rest des Teams es wahrscheinlich früher oder später herausfinden. Und je länger jemand mit der Offenlegung einer Beziehung wartet, desto mehr werden die anderen das Gefühl haben, dass ihnen etwas verheimlicht wurde, und sie könnten negativ reagieren. Sie können im Geiste alle vergangenen Interaktionen Revue passieren lassen und alle gemachten Äußerungen erneut überprüfen. Je mehr Menschen die Vergangenheit neu bewerten müssen, desto problematischer kann es werden.

Trotz dieser Risiken wird es immer wieder Romanzen im Büro geben. Und bei all den psychologischen Faktoren, die dabei eine Rolle spielen, kann man es den Kollegen kaum verdenken, wenn sie sich ineinander verlieben. Dennoch endet nicht jede Büroromanze für immer, und es macht keinen Spaß, das Gesicht des Ex jeden Tag bei der Arbeit zu sehen. Deshalb ist es wichtig, seine Motive zu überprüfen und die Vor- und Nachteile abzuwägen, bevor man sich auf eine Romanze am Arbeitsplatz einlässt.

Sylvia Marian

Business & IT Consultant